23. April 2024

Unser Zusammenhalt nach innen ist unsere Stärke nach außen

Fehlender Zusammenhalt und mangelnde Solidarität in der Community sind brandgefährlich, denn sie lähmen uns gerade jetzt, wo die politische Gefahr bereits vor der Haustür steht. Ein Kommentar von Marcel Voges, Vorstandsmitglied des Berliner CSD e.V.

„We are family!“ war auf der Zürich Pride 2002 oder der Regenbogenparade 2010 in Wien ein aussagestarkes CSD Motto und konnte Zehntausende von queeren Menschen vereinen, gemeinsam für Gleichberechtigung durch die Straßen zu ziehen. Für mich sagt das Motto auch aus, dass „Familie“ eben nicht (nur) unsere Verwandten sind. Als Community bieten wir einander eine alternative Wahlfamilie, die uns so akzeptiert, wie wir sind, und in der wir zusammenhalten. Eine Tatsache, die nicht alle von uns über ihre „echte“ Familie sagen können. Mit „We are family“ wurde ein starkes Motto gewählt, welches auch das Thema Zusammenhalt in der Community aufgreift. Doch heute, einige Jahre später, frage ich mich: Was bedeutet „family“ in der Community, und wie viel existiert tatsächlich von diesem Gefühl des Zusammenhalts?

Die Kämpfe der queeren Community in den vergangenen Jahrzehnten waren hart und doch sehr erfolgreich. Diskriminierende Gesetze wurden abgeschafft, und eine gesetzliche Gleichstellung scheint zum Greifen nahe. Erst kürzlich konnten wir mit dem Selbstbestimmungsgesetz einen weiteren Meilenstein feiern. Leider greift jedoch auch ein zunehmendes Gefühl der Spaltung um sich. In der Community äußern viele die Sorge, dass der Zusammenhalt bröckelt – und damit wächst die Angst, dass all die Errungenschaften, die wir uns über Jahrzehnte mühsam erkämpft haben, bedroht sind. Höchste Zeit also, dass wir uns als queere Community mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung der Zusammenhalt für uns hat – für unser Miteinander, für unsere Rechte, für die Freiheit, so leben zu können und zu dürfen, wie wir nun mal sind. Bunt, laut und queer.

Klar ist: Als diskriminierte Gruppe und Minderheit sind wir stärker politischen Angriffen ausgesetzt und damit besonders verletzlich. Wir sind auf einen Schutzschild des Zusammenhalts angewiesen, welcher uns vor Angriffen und Rückschritten schützt. Gleichwohl wird Spaltung von politischen Kräften gezielt als Strategie eingesetzt, um gesellschaftliche Gruppen in ihrer Widerstandskraft zu schwächen. Als Vorstandsmitglied des Berliner CSD frage ich mich in diesem Zusammenhang: Wie sollen wir die aktuellen politischen Herausforderungen meistern, wenn wir nicht gemeinsam, sondern gegeneinander arbeiten? Mit diesem Beitrag möchte ich zur Diskussion anregen, aber auch Hoffnung geben. Ich möchte laut über die Möglichkeiten nachdenken, wie wir alle miteinander zu neuem Selbstbewusstsein der queeren Community beitragen können. Ich bin überzeugt: Unser Zusammenhalt nach innen ist unsere Stärke nach außen.

Über Streit in der queeren Community

Wer kennt es nicht: an vielen Ecken innerhalb unserer Community kommt es zu Reibereien. Wir streiten um die beste Namensgebung des queeren Sportvereins, wir streiten um die richtige LGBTIQ*-Flagge, wir streiten um Sichtbarkeit für verschiedene Gruppen in unserer Community. Alt gegen jung, Schwule gegen Lesben. Soweit so gut, könnte man meinen, Streit gehört nun mal zu einer lebhaften und bunten Community dazu. Es sind leider aber auch Streitereien, die viel zu oft persönlich werden und zu lautstarken Auseinandersetzungen führen. Personen meiden sich auf Veranstaltungen und grüßen sich teilweise gar nicht mehr. Doch wenn es nicht mehr um Inhalte geht, sondern viele Diskussionen hoch emotional werden und zu Verwerfungen führen, haben wir ein echtes Problem!

Allen Streitlustigen möchte ich sagen: Ja, lasst uns streiten. Streit ist nichts per se Schlechtes – im Gegenteil. Solidarischer Streit um die besten Lösungen für unsere Community ist wichtig und stärkt uns. Wir können voneinander und übereinander lernen und entwickeln dabei eine Community-interne Empathie, also jene Form von Akzeptanz und Verständnis, die wir auch von Menschen außerhalb unserer Community erwarten. Auch wenn es dabei ordentlich ruckelt und klappert, können wir als Community daran wachsen – Reibung erzeugt bekanntlich Wärme. Wichtig dabei: wir dürfen das große Ganze und die Solidarität miteinander niemals aus den Augen verlieren. Doch wie kann es uns gelingen, alte (persönliche) Konflikte endlich zu beenden und gemeinsam solidarisch nach vorne zu schreiten? Was sind die Bedingungen, unter denen wir zwar nicht immer einer Meinung sein werden, doch stets konstruktiv und gemeinsam für unsere Rechte kämpfen?

Die Häufigkeit der Hasskriminalität gegen queere Menschen steigt, rechte Parteien sind im Aufstieg, und noch immer erfahren queere Menschen Ablehnung, wenn sie sich outen. Dies können wir nicht akzeptieren und sollten uns daher finden – zusammen. Ich bin überzeugt: Ein „Wir gegen die“, so wie es weit über die queere Community hinaus immer salonfähiger wird, ist nicht die Antwort, die unsere Existenz und Rechte langfristig schützen wird und den anstehenden Herausforderungen gewachsen ist. Ein „Wir gegen die“ ist ein Teil des Problems.

Viele Konflikte gehen auf legitime und wichtige Bedürfnisse innerhalb der Community zurück. Ich möchte drei Punkte hervorheben, die ich für einen stärkeren Zusammenhalt besonders wichtig finde.

Erstens, die gesellschaftliche Akzeptanz insbesondere für Schwule und Lesben stieg in den vergangenen Jahren in Deutschland, und die Sichtbarkeit der queeren Community hat sich verändert. Nicht nur immer mehr schwule und lesbische Personen outen sich, sondern auch nichtbinäre Menschen, trans* Menschen, die Bi-Community und andere sind sichtbarer geworden. Das ist gut so. Immer wieder zeigen Diskussionen, dass es neben der Frage nach mehr Inklusion parallel auch Angst vor Verdrängung der eigenen Identität gibt. Insbesondere die ältere Generation identifiziert sich beispielsweise seltener mit dem Begriff „queer“, die junge Generation lebt diesen Begriff häufiger und selbstverständlicher. Für mich liegt es auf der Hand, dass wir alle die Sichtbarkeit unserer eigenen Identität sicherstellen wollen. Wie gelingt es uns, die verschiedenen Bedürfnisse nach Sichtbarkeit miteinander zu vereinen?

Zweitens stelle ich fest, dass Kämpfe für gemeinsame, politische Projekte – zum Beispiel die Ehe für alle – die queere Community in der Sache geeint haben. Politische Projekte, mit denen sich ein Großteil der Community identifiziert, lassen ein Wir-Gefühl entstehen. Doch die Ehe für alle feiert bereits ihren siebten Geburtstag, und die politische Situation ist komplizierter geworden. Unsere politische Gleichstellung ist stark vorangeschritten, und Themen, die einzelne Gruppen in der Community betreffen (wie zum Beispiel das Selbst­bestimmungs­gesetz), rücken in den Fokus. Ein verbindendes politisches Thema fehlt uns, sowie die gemeinsame Identifikation mit politischen Themen. Darüber hinaus ist uns das Wir-Gefühl abhandengekommen. Was braucht unsere Community, um die Solidarität miteinander und uns besser kennenzulernen, sowie neue politische Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten?

Drittens hat sich das gesellschaftliche Klima in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert: Parteien und Politiker*­innen legen einen Fokus auf Unterschiede statt auf Gemeinsamkeiten. Das „Wir gegen die“ wird immer präsenter, und es wäre naiv anzunehmen, dass dieser Trend und die damit einhergehende Verschiebung des öffentlichen Diskurses vor der queeren Community Halt gemacht hätte. Eine nicht-repräsentative Studie auf der schwulen Datingplattform Romeo hat gezeigt, dass rund 20 Prozent der schwulen Männer die AfD wählen würden. Wir können die Zahlen aus verschiedenen Gründen zwar anzweifeln, doch wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass auch queere Menschen rechte Parteien wählen und warum sie gewählt werden. Ich frage mich, was können wir aus unserer Vergangenheit lernen? Kann eine Spaltung, wie sie rechte Parteien betreiben, wirklich unser wehrhafter Schutzschild für die Zukunft sein?

Über die Gefahr von Spaltung – und was wir von Held*­innen lernen können

Das Erstarken rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien in Deutschland, Europa und der Welt erfordert von uns Wachsamkeit, um unsere Rechte und Freiheiten zu verteidigen. Denn es sind rechte Parteien, die trans* Menschen ihr Geschlecht absprechen, die queere Menschen als Straftäter*­innen darstellen und erkämpfte Rechte wie die Ehe für alle parlamentarisch angreifen. Oftmals werden bei solchen Angriffen, beispielsweise auf trans* Menschen, die gleichen diskriminierenden Floskeln genutzt, wie sie vor 20 bis 30 Jahren noch gegen Schwule und Lesben genutzt wurden. Dies sollte uns als Community wachrütteln, denn es sind dieselben Strategien und es ist derselbe Kampf – gestern wie heute. Für mich ist daher klar: Politische*r Hauptgegner*in der queeren Community kann niemand anderes als die aufstrebenden rechten Parteien sein, die zur Spaltung der Gesellschaft beitragen und uns immer wieder angreifen. Sollte der politische Einfluss rechter Parteien weiterwachsen, werden unsere erkämpften Rechte immer öfter in Frage gestellt und der Ton gegen unsere Community noch rauer. Die Folgen für uns: existentiell.

Ich wähle bewusst drastische Worte, denn die Lage ist aus meiner Sicht mehr als ernst. Gleichzeitig denke ich: In jeder Geschichte gibt es doch auch Held*­innen?! Wo bleiben die Held*­innen, die die queere Community im Jahr 2024 vor Bedrohungen schützen? Eins sei vorweggesagt: Es gibt nicht den*die eine*n Held*in, der*die uns schützen wird. Und dennoch zeigen uns Held*­innen in der Fiktion auf, worauf es wirklich ankommt: Sie sind mutig und leidenschaftlich, sie sind handlungsfähig, und vor allem konzentrieren sie sich immer auf das Wesentliche: die reale Bedrohung. Sie wissen nämlich genau, dass immer dann, wenn Held*­innen sich gegenseitig bekämpfen – also abgelenkt sind vom Wesentlichen – sie damit nur ihre Gegner*­innen stärken.

Ich finde, hieraus können wir lernen: Ein fehlender Zusammenhalt macht es unseren Gegner*­innen einfacher, unsere Held*­innen zu bekämpfen. Held*­innen, das sind wir nämlich alle gemeinsam. Held*­innen-Taten können wir nur vollbringen, wenn wir zusammenhalten. Denn wenn wir es nicht schaffen unsere Konflikte zu überwinden, werden wir unseren erkämpften Fortschritt nicht verteidigen können. Ich möchte es nochmal in aller Klarheit formulieren: Fehlender Zusammenhalt und mangelnde Solidarität in der Community sind brandgefährlich, denn sie lähmen uns gerade jetzt, wo die politische Gefahr bereits vor der Haustür steht.

Wie wir zu mehr Zusammenhalt kommen

Wie kommen wir aus dieser verfahrenen Situation denn nun heraus? Ein Patentrezept gibt es vermutlich nicht. Aber schlussfolgernd könnten folgende individuellen und kollektiven Ansätze aus meiner Sicht helfen, wieder zu echtem Zusammenhalt zu kommen:

Ehrliches Interesse zeigen und eigene „Blase“ verlassen

Laut dem Forschungsinstitut für gesellschaftlichen Zusammenhalt hilft es, den Zusammenhalt zu stärken, wenn wir uns in gemischten statt in homogenen Netzwerken bewegen. So können Verständnisbarrieren und Feindseligkeiten abgebaut werden. Was könnte das für uns bedeuten? Wenn wir es schaffen, auf andere Gruppen innerhalb unserer Community zuzugehen und ehrliches Interesse an den Bedürfnissen und Lebenslagen anderer zeigen, könnte das den Zusammenhalt stärken. Das kann in queeren Sportvereinen, Parteien, gemeinnützigen Organisationen, aber auch auf Partys oder beim CSD der Fall sein. Queere Gruppen, Organisationen und Vereine sollten sich stärker mit anderen Gruppen vernetzen und Teile der Community einbinden, mit denen wir vielleicht sonst weniger in Kontakt stehen. So könnten Räume geschaffen werden, in der die ältere Generation beispielsweise mehr Verständnis für die Bedürfnisse und Wünsche junger Queers und trans* Menschen entwickeln, und junge Queers könnten die (politische) Leistung der älteren Generation für die queere Community besser anerkennen. Dabei muss niemand in der queeren Community die eigene Identität aufgeben. Ehrliches Interesse und echte Begegnungen außerhalb unserer „Blase“ können ein erster Schritt sein, mehr Verständnis füreinander zu entwickeln und die eigene Identität sogar zu stärken.

Mehr Mut für Kompromisse

Im Rahmen einer Studie in den USA gab jede*r zweite Republikaner*in an, unglücklich zu sein, falls das eigene Kind einen Demokraten heiratet. Die Befragung zeige, dass obwohl sich die Positionen der befragten Anhänger*­innen beider Parteien nicht elementar geändert haben, die Abneigung gegenüber der jeweils anderen Partei stark ansteigt. Dieses Beispiel zeigt, dass es sich nicht unbedingt um eine inhaltliche Spaltung in der Gesellschaft handelt, sondern insbesondere die emotionale Spaltung zunimmt. Bewusstsein kann aber Veränderung schaffen. Wir müssen uns also über diese emotionale Spaltung bewusst werden und einander wieder mehr zuhören. Auch innerhalb der Community gibt es ein demokratisches Meinungsspektrum, das wir alle anerkennen sollten. Wir müssen uns stärker anderen öffnen und offener für diversere Meinungen sein, die sich in einem demokratischen Konsens bewegen. Die Abgrenzung von rechtsextremen Einstellungen und Parteien sollte dabei für uns alle selbstverständlich sein. Wenn wir wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen, mehr Fragen stellen und offen für andere Positionen sind, können wir die Gemeinsamkeiten wieder stärker herausarbeiten. Das ist die wohl härteste Auseinandersetzung in der Community, denn wir wollen alle mit unseren politischen Idealen und Vorstellungen gesehen werden. Doch am Ende gilt auch: Wir müssen nicht in allen Fragen dieser Zeit einig sein, sondern nur in der Frage, wie wir alle queeren Menschen besser vor Diskriminierung und politischen Angriffen schützen können und wie wir uns von denjenigen abgrenzen, die uns oder Teile unserer Community angreifen!

Wir-Gefühl erarbeiten

Wir brauchen in der queeren Community ein neues und stärkeres Wir-Gefühl. Hierbei könnte ein Projekt mit einem Ziel helfen, an dem wir gemeinsam arbeiten. Dafür müssen wir herausarbeiten, welche Themen den Menschen in der queeren Community wirklich unter den Fingernägeln brennen. Wir müssen uns die Frage stellen, welches Thema eine große Schnittmenge in der queeren Community hat und die tatsächliche Lebensrealität queerer Menschen verbessern würde. Wichtig ist, dass sich möglichst viele in der Community damit identifizieren können und auch bereit sind, Verantwortung für den gemeinsamen Erfolg zu übernehmen. Doch dabei sollte uns nie die Solidarität abhandenkommen und wir sollten auch Themen unterstützen, die vielleicht nicht uns selbst, aber andere Teile der Community betreffen. So kann es uns gelingen, unsere Motivation aus den Kämpfen und Erfolgen für andere Gruppen innerhalb unserer Community zu schöpfen, auch dann wenn wir von diesen Erfolgen nicht unmittelbar selbst betroffen sind.

Gibt es ein Happy End?

Wie steht es denn nun um unser Happy End? Wird sich die queere Community aufraffen, alte Konflikte beiseitelegen und ihre Stimmen miteinander gegen die reale Bedrohung richten? Das Ende dieses Beitrags bleibt ungewiss. Das mag für alle Leser*­innen enttäuschend sein, doch es ist eine echte Chance. Denn es bedeutet, wir können das Ende selbst gestalten. Klar ist, dass es keine*n Held*in geben wird, der*die unverhofft vom Himmel fällt und die Demokratie und queere Menschen schützen wird. Stattdessen müssen wir gemeinsam daran arbeiten, als Kollektiv zu solchen Held*­innen zu werden. Denn mit dem offenen Ende dieser Geschichte geht auch Verantwortung einher. Verantwortung, Konflikte innerhalb der queeren Community solidarisch zu führen, einander mehr und ehrlich zuzuhören und unsere gemeinsame Superkraft einzusetzen: Echter Zusammenhalt.

Du hast Skepsis? Das ist verständlich. Doch vielleicht erfordert es gerade deshalb in der jetzigen Situation etwas Mut, wie ihn Held*­innen in sich tragen. Mut, neue Wege zu gehen, die emotionale Spaltung zu überwinden und aufeinander zuzugehen. Der Versuch wird sich lohnen, denn fehlender Zusammenhalt in unserer Community wird uns alle definitiv teurer zu stehen kommen.

Also, was bist du bereit für echten Zusammenhalt zu tun?

Marcel Voges, Vorstandsmitglied des Berliner CSD e.V.

Foto-Credit: Müjgan Arpat

Foto-Credit: Marvin Albrecht