Kommentar von Barbie Breakout
Kommentar:
Hi. Mein Name ist Barbie Breakout. Ich bin Autorin, Podcasterin und ab und an auch Aktivistin.
Als mich der Berliner CSD e.V. bat, meine Gedanken zum Thema Pride und Kink zu Papier zu bringen, war gerade der CSD 2022 vorbei. Eine Rapperin namens Katja Krasavice hatte auf ein paar nackte Männer und andere in Fetishgear mitlaufende Teilnehmer:innen in ihrer Instastory reagiert – mit den Worten, das seien „Perverse“ und „Pädophile“, die nichts mit dem CSD zu tun hätten. Sie hätten sich dort eingeschlichen, um „ihre ekelhaften, perversen Fantasien auszuleben“.In ihrem Statement betonte sie mehrmals, die dort sichtbare Nacktheit und das Zurschaustellen von „Fetischen, die anderen psychische und körperliche Schäden zufügen“ wäre gefährlich für die anwesenden Kinder. Einmal setzte sie das Wort Menschen sogar in Anführungszeichen. Katja selbst, die sich als bisexuell identifiziert, hatte in diesem Jahr am CSD teilgenommen. Sie rührte mit einem riesengroßen Werbetruck die Werbetrommel für ihren kürzlich erschienenen Eistee. Ihr OnlyFans-Account. Ihre TV-Auftritte wie bei Big Brother, wo sie sich vor laufenden Kameras unter der Dusche selbst befriedigte. Ihre aufgeschlossenen und schambefreiten Texte, in denen sie mit extrem expliziten Worten über ihr Sexleben rappt: Wer mit ihrer Onlinepräsenz vertraut ist, wird sich über so viel Prüderie wundern. So auch ich. All das findet im öffentlichen Raum statt. Die Songs laufen tagtäglich im Radio. Jedes Kind mit Internetzugang zuhause oder einem Smartphone kann alle Inhalte jederzeit abrufen und ansehen.
„Pussy Power“
(Fi-, fi-) Fick‘ mit wem ich will, das kein Trend, sondern ’ne Lebensart
Nehm‘ alles in den Mund, keiner sagt mir, was ich reden darf (Uh)
Spar‘ die Viagra, Pussy poppin‘, ich krieg‘ jeden hart (Mhm)
Setz‘ mich auf sein Face, wenn er irgendwas zu reden hat (Ja)
Dirty-Talk, Boy, werd‘ vom Flirten nicht mehr feucht (Ah-ah)
Typen konkurrier’n bei mir mit ’ner Schublade voll Toys (Mhm)
(…)
Wenn er nett ist, darf er würgen und das Paddel ausprobier’n (Uh)
Er holt mir ein’n Ring, denn meine Pussy ist gepierced (Uh)
(…)
Er will Pussy, ich will Dick
Leck sie weiter, bis sie gibt
Bubble Butt und große Tits
Ich fick‘ mit wem ich will
Angesichts solcher Lyrics hätte ich mit mehr Coolness und Toleranz gerechnet im Hinblick auf ein paar harmlose Jungs in Pup-Gear und vereinzelte nackte Menschen.
Wirklich entsetzt hat mich aber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie die nackten Männer, die es auf jedem CSD vereinzelt gibt, als „pervers“ und „pädophil“ bezeichnet hat. Ich recherchierte ein bisschen und fand heraus, dass auch ein Instagramprofil namens „Kinderseelenschützer“ schon seit Tagen ins selbe Horn blies: Mit einer Sammlung von Fotos, die Männer in Fetischoutfits zeigten, wurde online eine Petition beworben. Darin wurde ein Verbot jeglicher Zurschaustellung von Fetischen und „öffentlich ausgelebter Sexualität“ beim CSD gefordert. Auf den verlinkten Fotos waren zum Beispiel Pups zu sehen (also Menschen mit einer Art Hunde-Cosplay, vor allem Hundemasken) oder ein Mann mit Babyhaube und Schnuller. Daraus ergebe sich, so die Petition, eine „massive Kindswohlgefährdung“ beim Berliner CSD.
Mit ein bisschen mehr Recherche konnte ich erfahren, dass sowohl Katja als auch die Mitglieder von „Kinderseelenschützer“ im Kindesalter Opfer sexueller Gewalt wurden. Das erklärte für mich zu einem gewissen Grad die Intensität der Reaktionen auf die für mich harmlose Darstellung von Fetisch und Nacktheit. Was mir nach wie vor nicht in den Kopf wollte: Die Behauptung, die dargestellten Fetische würden andere „psychisch und körperlich gefährden“ und die automatische Sexualisierung des Gesehenen. Warum wurde den Pups oder dem Mann mit dem Babykostüm reflexartig unterstellt, sich an Kindern vergehen zu wollen?
Ich ging an diesem Abend mit Zorn im Bauch ins Bett. Ich hatte den Pride Month gerade hinter mich gebracht und freute mich auf ein paar Monate ohne irgendeine Art von Öffentlichkeit für Barbie. Ich wollte die Finger stillhalten, arbeiten gehen, abends irgendwas in meinen neu erstandenen Airfryer schmeißen und ab und an einen Podcast aufnehmen. Dann wäre auch bald Weihnachten und das Jahr geschafft. Irgendjemand unter den vielen Onlineaktivist:innen würde sich schon Katjas Blödsinn annehmen und einordnen, damit das nicht so stehen bliebe. Doch am nächsten Morgen war weder mein Zorn verflogen, noch hatte sich irgendjemand um die Causa Krasavice gekümmert. Das Statement war nach wie vor in ihrer Story für ihre mehr als drei Millionen Follower sichtbar und soweit ich sehen konnte, hatte sich niemand mit Reichweite dazu positioniert. Und so kam es dann, dass ich völlig verquollen morgens um halb sieben einen zweiminütigen Rant zu dem Thema abließ, das Ganze bei Instagram hochlud und zur Arbeit ging. Viele stimmten mir zu, andere fanden das alles total abwegig und wieder andere schickten mir Beleidigungen oder beschimpften mich als Pädophile. Da war er wieder, dieser Vorwurf. Warum nur dichtet die Welt momentan abermals gehäuft queeren Menschen Grooming und Pädophilie an?
Ich wollte dem auf den Grund gehen und begab mich auf Internetrecherche.
Ich erfuhr entsetzt, dass beim CSD tatsächlich immer wieder offen pädophile Gruppen und Personen mitlaufen, die behaupten, „Teil des CSD“ gewesen zu sein. Solche Vorfälle sind natürlich ein gefundenes Fressen für die Regenbogenpresse, Teile der AFD oder eine handvoll TikToker, die von der Sensationalisierung solcher Inhalte leben. Denn man kann leicht den Eindruck erwecken, als wären solche Leute tatsächlich ein akzeptierter, bei der Parade willkommener Teil der Community. Dass dem natürlich nicht so ist, kann man mit ein bisschen Recherche selbst rausfinden. Der Gründer der Pädophilengruppe „Krumme 13“ zum Beispiel war beim Kölner CSD 2022 vertreten. Allerdings ausschließlich mit einem Plakat, das den Onlinenachrichtendienst „queer.de“ dafür kritisierte, Kommentare zu „zensieren“. Queer.de schaltet wirklich Kommentare nicht frei, in denen die Legalisierung von sexuellem Missbrauch von Kindern gefordert oder Pädophilie verharmlost wird.
Der Kölner CSD distanzierte sich umgehend von den Vorwürfen, Pädophile seien beim CSD willkommen. Hugo Winkels, der die Cologne Pride seit über 30 Jahren mitorganisiert, sagte dazu in einem Statement: „Wir sind offen für jegliche Art der Liebe, sofern alle Einbezogenen auch selbstständig frei entscheiden können. Bei Schutzbefohlenen ist das nicht so. Deshalb liegt das Recht der Schutzbefohlenen über dem Recht der Gleichstellung.“
Beim CSD anwesend zu sein, heißt deshalb nicht, dass die eigenen Werte und Forderungen sich mit denen des CSDs decken. Es gab bei solchen Paraden immer grenzwertige Figuren wie beispielsweise schwule Nazis. In diesem Fall kam niemand auf die Idee, anzudeuten, dass deren vereinzelte Präsenz beim CSD hieße, sie wären dort willkommen. Wenn man aber Wasser auf die Mühlen rechter Populisten schütten will, die Auflage steigern oder die Klicks für den eigenen TikTok- oder YouTube Kanal in die Höhe treiben möchte und es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, dann hat man die perfekte Steilvorlage gefunden.
Dass Homosexualität und Pädophilie oft in einen Topf geschmissen werden, ist nicht neu. Tatsächlich ist das ganze Ding uralt und im kollektiven Unterbewusstsein der Menschen noch stark verankert. Das heißt, dass es immer wieder aktivierbar ist. Wie eine alte Angst, die nur einen kleinen Trigger braucht, um wieder voll präsent zu sein. Das machen sich rechtskonservative Rattenfänger immer wieder gerne zu Nutzen. Mit der Furcht vor den „bösen schwulen Kinderschändern“ lässt sich wunderbar auf Stimmenfang gehen, wenn man sonst nicht viele Inhalte hat. Mit Angst lassen sich Wahlen gewinnen und die Massen vereinen. Auch die explodierende Anzahl an Gesetzesentwürfen, die die amerikanischen Republikaner:innen momentan verabschieden möchten, basiert meiner Meinung nach nur zu einem geringen Anteil auf tatsächlicher Queer-Feindlichkeit. Sondern eher der Wählerschaft ein vereinendes Ziel für kollektive Angst und Hass zu bieten. So fällt nicht auf, dass für die tatsächlichen Probleme in den Parteiprogrammen keine Lösungsansätze vorhanden sind. Es ist ein Versuch, von den wirklichen Brandherden abzulenken, indem man dem Volk suggeriert, der Rauch käme von woanders.
Eine Studie des Centers for Disease Control belegt eindeutig, dass seit 2020 Tod durch Schusswaffen die Todesursache Nummer eins für Kinder in den USA ist, noch vor Verkehrsunfällen und Überdosierungen/Vergiftungen. Andere ernst zu nehmende Probleme für Kinder sind zum Beispiel Armut, mangelnde Bildung und ein fehlender Zugang zu erschwinglicher medizinischer Versorgung. Doch da sind die Kinder den meisten rechten Politiker:innen plötzlich herzlich egal. Denn um diese Dinge zu bekämpfen, müsste man das Geld der Lobbyist:innen ablehnen, sozialere Strukturen schaffen, Steuern umverteilen und fairere Löhne verhandeln. Alles keine republikanischen Talking Points.
Was also tun?
Wahnwitzige Kriege gegen Abtreibungsrechte führen, Trans*menschen zu Triebtäter:innen erklären und Drag Queens zu einer Gefahr für Kinder stilisieren. Dann klappts auch mit der Wahl und das Volk ist in Hass und Panik vor den bösen pädophilen Gendergroomern vereint. Wie so oft mit den Trendthemen von überm Teich sind diese Dinge ebenfalls bei uns binnen kürzester Zeit zu einem nicht zu ignorierenden Teil der rechten Rollback-Versuche geworden. Ich warne seit einer ganzen Weile davor, dass es für uns aus diesen Gründen bald sehr ungemütlich werden könnte. Dafür wurde ich nicht nur einmal als hysterische Alte mit chronischem Opferkomplex hingestellt. Aber hier sind wir nun. Hi.
Seit ich angefangen habe, diesen Artikel zu schreiben, musste ich mehrere Male das Ausmaß der Gewalt gegen uns, die massive Anzahl an Gesetzesentwürfen und sogar erlassener Gesetzgebung updaten. Der Text hinkte dem tatsächlichen Ausmaß der Diskriminierung immer hinterher.
Doch zurück zum Vorwurf der Pädophilie:
Oft ist diese im Volksglauben vorhandene Befürchtung, dass wir eine Gefahr für Kinder wären, in uns selbst vorhanden. Wir nennen so etwas dann „Internalisiertes“. Verinnerlichte Erinnerungen daran, was Menschen um uns herum gesagt oder vor allem wie sie auf schwule Männer reagiert haben. Ich habe mir lange selbst nicht im Umgang mit Kindern getraut und wusste gar nicht, warum. Irgendwann wurde mir klar, dass ich das gelernt hatte. Ich hatte gehört, wie Menschen in meinem Umfeld Dinge gesagt haben wie: „Ich habe ja nichts gegen Schwule, aber mit meinem Kind lass ich den jetzt nicht allein.“, oder „Man weiß ja, wie die sind. Lieber kein Risiko eingehen“. Als Kind saß ich daneben, als ein Vater bei einer Familienfeier ausgerastet ist. Nur weil seine Frau einen schwulen, langjährigen Freund der Familie darum gebeten hatte, die beiden Söhne ins Bett zu bringen. Als der Vater erfuhr, mit wem seine beiden Söhne gerade allein waren, schrie er seine Frau an: Man könne die Kinder doch nicht in so eine Gefahr bringen. Er rannte los, um „das Schlimmste“ zu verhindern. Natürlich war nichts passiert. Doch die Erinnerung, dass man schwule Männer mit Kindern nicht allein lassen könne, hatte sich bei mir eingebrannt – und auch, dass es kaum Gegenstimmen gegen seinen Ausbruch gab. Dabei interessieren mich Kinder sexuell selbstverständlich überhaupt nicht. Ich suche Männer; im Idealfall größer, breiter, kerniger als ich. Mein moralischer Kompass würde mir so etwas natürlich sowieso kategorisch verbieten. Und trotzdem muss ich mich wieder und wieder als pädophil beschimpfen lassen. Einfach, weil das dieser Tage abermals ein gängiges, gerade auch auf Social Media gut laufendes Narrativ ist.
Mir schrieb letztes Jahr jemand auf Instagram, dass man mich häuten müsse, um mich dann bei lebendigem Leib zu verbrennen. Die Erde sei ein besserer Ort, wenn ich tot wäre. Denn ich hätte eine für Kinder gefährliche Agenda. Was war passiert? Ich hatte unter einem Post von meinem Freund Riccardo Simonetti kommentiert, dass ich stolz auf ihn wäre. Er zeigt mit seinem Buch „Raffi und sein pinkes Tutu“ und seiner Präsenz so vielen Kids, dass man auch als queere Person glücklich und erfolgreich sein kann. Sonst nichts.
Das ist also online das Klima, in dem wir uns bewegen. Solche Drohungen betreffen nicht nur ältere Leute wie mich, sondern auch die nachfolgende Generation. Junge Menschen, die ihre Sexualität oder Geschlechtsidentität hinterfragen oder schon wissen, dass sie queer sind, sind deutlich gefährdeter, sich selbst zu verletzen oder gar Selbstmord zu begehen. Die Zahlen dazu kann man googeln. Die Studien sind eindeutig. Die Ursachen klar: Mobbing, soziale Ausgrenzung, intolerante Eltern und schwieriger Zugang zu psychosozialer Versorgung.
Wenn wir als queere Community dann versuchen, dem entgegenzuwirken, indem wir in Schulen gehen, Aufklärung betreiben, Bücher für betroffene Kids und ihre Mitschüler:innen schreiben, wirft man uns Sexualisierung der Kinder vor. Wir würden sie groomen, sie also mental manipulieren, um sie bereit für Missbrauch zu machen. Davor müsse man die Kinder schützen. Dass man sie eher vor Hass und Vorurteilen schützen müsste, wird weggewischt. Was sollten wir bloß für ein Interesse an Kindern haben, wenn nicht ein sexuelles? Es geht nicht einmal „nur“ darum, möglicherweise queeren Kids früh zu zeigen, dass sie sich selbst nicht hassen müssen für ihr Anderssein. Es geht genauso darum, anderen Kids beizubringen, dass man queere Menschen nicht othern muss. Selbst wenn sie dieses Verhalten aus ihrem Umfeld so beigebracht bekommen. Man möchte der über Generationen vererbten Ablehnung und den Vorurteilen einen Gegenentwurf gegenüberstellen. Damit das Kind, das irgendwann erwachsen wird, nicht weiter durch die Welt geht und queere Personen diskriminiert oder sogar attackiert. Wie, wenn nicht so, sollen wir der zunehmenden Gewaltbereitschaft gegenüber queeren Menschen entgegentreten?
Auch jegliche Repräsentation in den Medien wird als Brainwashing der nächsten Generation gewertet. Die Argumentation dahinter: Je mehr Kinder queere Menschen auf der Leinwand oder im Fernsehen ausgesetzt sind, umso höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich das „abschauen“ und dann selbst „entscheiden“, queer zu leben. Nun wissen wir alle, dass das keine Entscheidung ist. Wer würde sich freiwillig für ein Leben entscheiden, das viel zu oft noch mit Ausgrenzung, Diskriminierung und unverhohlenem Hass einhergeht? Wir haben es schon zig Mal gelesen: Wäre das, was wir im Fernsehen und im Kino über Gender und Sexualität sehen, tatsächlich prägend dafür, wie wir uns entwickeln, wären alle Menschen meiner Generation und aller Generationen davor cis und hetero. Es gab einfach so gut wie keine Repräsentation, die uns alle hätte queer machen können. Die Behauptung stimmt also schlicht nicht. Trotzdem werden unsere Gegner:innen nicht müde, ihren Feldzug gegen die „Überrepräsentation“ von queeren Menschen in den Medien mit diesem Argument zu begründen. Wie so oft werden Kinder und der Kindesschutz vorgeschoben, um den eigenen Ressentiments und Vorurteilen mehr Gewicht zu verleihen.
Wenn Ulrike aus Bottrop schreit „Ich will keine küssenden Männer sehen, weil ich das eklig finde!“, interessiert das heute nicht besonders viele. Schreit sie aber „Ich will keine küssenden Männer sehen, weil Kindesschutz!!“, dann ist das eine andere Kiste und man hört ihr zu, nimmt sie ernst und kann ihr schwer widersprechen.
Denn wer will schon gegen Kindesschutz argumentieren? Niemand, natürlich. Und wer bei dem Argument nicht sofort verstummt, macht sich verdächtig. Es ist in der Verantwortung der Eltern, darauf zu achten, was sich ihre Kinder anschauen. Sollten das eindeutig sexuelle Inhalte sein, dann ja: So etwas ist nicht für Kinder gemacht. So etwas sollten sie nicht sehen. Aber dann sollte die Gleichgeschlechtlichkeit des sexuellen Aktes unwichtig sein. Right? Dasselbe gilt für Drag Shows: Eltern müssen entscheiden, wohin sie ihre Kids mitnehmen. In einem Nachtclub haben Kinder nichts verloren. Aber wo ist die Gefahr bei Drag Queen Story Hours, wo Kindern Geschichten darüber vorgelesen bekommen, dass es ok ist, anders zu sein? Meine Freundin Peppermint verglich das neulich mit Filmen, die man Kindern vorführt. Es gibt solche, die klar für Kids unproblematisch sind, und andere, bei denen alle wissen, dass sie erst ab 18 geschaut werden sollten. Kategorisch alle Filme zu verbieten, weil man Angst hat, die Kids könnten Sachen sehen, die nicht kindergerecht sind, macht keinen Sinn. Ebenso wenig wäre es akzeptabel, Katjas Songs alle auf den Index zu setzen, weil die in Teilen pornografischer Natur sind.
Beim CSD ist es nicht wahnsinnig anders.
Ginge es tatsächlich an erster Stelle um den Kindesschutz, würde ich erwarten, dass sich die Wortführer:innen an vielen anderen Institutionen und Veranstaltungen abarbeiten und den CSD nicht besonders im Visier hätten. Ein paar hundert Menschen im Fetischoutfit und ein paar Nackte, verteilt auf einen Zug von mehr als einer halben Million Menschen, können nicht so ins Gewicht fallen. Oder geht es darum, dass Eltern selbstdie offen gezeigte Queerness auf der Parade abstoßend finden? Wird das Totschlagargument des Kindeswohls vorgeschoben, um eine eigene Agenda zu stärken? Bei der Loveparade waren jedes Jahr jede Menge nackter Körper zu sehen. Allerdings waren die meisten davon weiblich. Öffentlich zur Schau gestellte sexuelle Handlungen gab es zuhauf. Googelt man „loveparade porn“, kommen zahlreiche Videos. Googelt man „csd porn“, kommt nichts. Nicht ein einziges Video.
Eine Berliner Pornoproduktion drehte immer wieder Filme auf der Love Parade, wo ihre Proband:innen am helllichten Tag auf offener Straße harten Sex hatten – untermalt vom Johlen und den Anfeuerungen der Umstehenden. Ich erinnere keinen moralischen Aufschrei. Beim Oktoberfest werden jedes Jahr zahlreiche sexuelle Übergriffe gemeldet, immer wieder sogar Vergewaltigungen. Jedes Jahr wird öffentlich gevögelt. Der berüchtigte „Kotzhügel“ ist legendär. Auch hier scheint der gesellschaftliche Konsens zu sein, dass das eben dazugehöre. Is halt die Wiesn. Höhö. Mia san Mia. Das mag ein Whataboutism sein, aber manchmal muss man Dinge eben in Relation setzen, um zu zeigen, dass sich etwas im Ungleichgewicht befindet. Also ja, es bleibt eine große Diskrepanz zwischen dem, was tatsächlich auf einer gewissen Parade in Berlin zu sehen ist und dem, was man bereit ist, anderswo durchgehen zu lassen.
Ich selbst bin kein Fan von öffentlichen sexuellen Handlungen. Mich beschämt es immer etwas, wenn ich das irgendwo sehe. Ich empfinde keinen Spaß beim Zuschauen und denke immer insgeheim: „Muss das denn sein? Wie wirkt das denn jetzt auf die Leute am Straßenrand?!“. Allerdings denke ich das auch auf der Loveparade (und wie auch immer sie sich jetzt nennt), dem Karneval der Verpeilten oder dem Karneval der Kulturen. Und wenn ich das Oktoberfest noch einmal in meinem Leben betreten sollte, was ich nicht vorhabe, dann würde ich das sicher auch dort denken. Und ja, ich werde immer dafür kämpfen, dass wir nicht durch ein vermeintlich moralisch überlegenes Außen in der Darstellung unserer Queerness reguliert werden. Und das beinhaltet für mich eben auch Teile der Community, mit denen ich nichts am Hut habe, die selbst mich ab und an befremden. Ich kann weder mit Leder, noch mit sonstigen Textilfetischen irgendetwas anfangen. Ich verstehe Pup-Fetisch nicht. Ich finde Männer in Masken unheimlich und frage mich oft, was bei Person X evtl. in der Prägungsphase schiefgegangen ist, wenn ich mit einem weiteren, mir neuen Kink konfrontiert werde. Ich bin da nicht freier oder weniger wertend als viele andere Menschen.
Aber ich habe kapiert, dass meine persönliche Präferenz völlig unbedeutend ist. Ich ticke zwar nicht so und kann mit vielem Gezeigten nichts anfangen. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht schützend davorstellen werde, wenn andere von außen versuchen, zu pathologisieren und zu reglementieren. Und ja, ein satter Teil des diesjährigen Kinkbashings kam aus den eigenen Reihen. Und auch das ist nicht neu.
Den communityinternen Streit darüber, wie viel Kink oder Drag auf den CSDs erlaubt sein sollte, führen wir so gut wie jedes Jahr. Aber auch nicht erst seit Kurzem. Die Frage, wie viel „Normalität“ wir rein äußerlich darstellen sollten, ist alt. Älter noch als Stonewall. Die „Mattachine Society“ sowie die „Daughters of Bilitis“, Aktivist:innengruppen aus den frühen Fünfzigern, setzten sich in den USA für die Rechte von Lesben und Schwulen ein. Sie glaubten fest daran, dass nur ein konservativer Kleidungsstil, ein „normales“, gepflegtes, keine-Aufmerksamkeit-erregendes Erscheinungsbild dazu beitragen würden, die Meinung der Öffentlichkeit über Homosexuelle zu ändern.
Auch in Deutschland gab es Anfang der Siebziger in der linken Schwulenbewegung darüber große Zerwürfnisse – bekannt als der „Tuntenstreit“. Als die „Homosexuelle Aktion West Berlin (HAW)“ 1973 weltweit zum Pfingsttreffen nach Berlin einlud, kamen viele Homos angereist. Unter anderem aus Frankreich, Holland und Italien. Der Rosa von Praunheim-Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers“ wurde gezeigt und viel diskutiert. Zur Demo marschierten die deutschen Schwulen eingehakt und sehr ernst ihre Parolen skandierend, während die Italiener und Franzosen sich aufgetufft hatten. Sie hatten Make Up aufgelegt und sich in Frauenklamotten geworfen, während sie am Rand der Demo entlangtänzelten und sangen, den Passanten am Straßenrand Kusshände zuwarfen und so provozierten. Das sorgte für Streit innerhalb der Community. Die deutschen Schwulen bei der Demo waren größtenteils gekleidet, wie man das in den Siebzigern auf einer Politdemo eben tat: Parka, schlammfarbene Klamotten, etc. Man emulierte den Look der Arbeiterklasse, mit der man sich solidarisch sah. Die bunte, „schrille“ Kleiderwahl der angereisten Gäste wertete man als unpolitischen Tand. Unnötig affektierte Staffage, die nur dazu führte, die Heteros am Straßenrand zu brüskieren. Am Ende würden diese Leute „der schwulen Sache schaden“. Statt Akzeptanz würde man Ablehnung und Unverständnis ernten. Beim Plenum nach der Demo wurde hitzig diskutiert und die anwesende Community spaltete sich in verschiedene Lager.
Hier stand wie heute die Frage im Raum, wie offensiv queer sich so eine Demo gestalten darf und ob die Akzeptanz der Hetenwelt nur dadurch erreichbar sei, sich in der Öffentlichkeit anzupassen, nicht zu provozieren oder zu schocken. Und ob das nicht als oberstes Ziel wichtiger wäre als queere Selbstentfaltung. Das Ganze landete in den Medien, wurde auch vom Rest Deutschlands heiß diskutiert und von der Springerpresse als „Marsch der Lidschatten“ betitelt. Was blieb? Ein Zerwürfnis innerhalb der linken schwulen Bubble. Ich habe heute zum ersten Mal „One Zero One“ von Tim Lienhard gesehen. Eine Doku über die beiden Drag Artists Cybersissy und BayBjane. Ein beeindruckendes Werk über zwei Menschen, die in ihrer Kunst Dinge tun, die sicherlich verstörend wirken, insbesondere auf Kinder. Nichts daran ist sexuell motiviert. Besonders Cybersissy betrachtet ihre selbstgenähten Outfits immer auch als Sozialkritik, als Kommentar zu unserer Gesellschaft.
Ich erinnerte mich beim Anschauen an das erste Mal, dass ich Cybersissy wahrgenommen habe. 1998 im Kölner „Lulu“ am Appelhofplatz. Sie, Joey Love und ein oder zwei andere Clubkids standen dort, in einer Art dekorativer Performance. Die meisten Leute liefen an ihnen vorbei, um auf die Tanzfläche oder an die Bar zu kommen. Doch ein paar andere (darunter auch ich) waren wie hypnotisiert und bewunderten diese Wesen und ihre Outfits. Joey Love wirkte wie ein wunderschönes Alien. Die selbstdesignten Plateaustiefel ohne jeden Absatz trotzten allem, was ich an Schuhwerk je gesehen hatte. Die Piercings, das Make Up… All das war berauschend weird und schön. Daneben stand Cybersissy. Sehr groß, korpulent, rasierter Schädel. In einem Gewand, das in all seiner Opulenz einer Kaiserin hätte gehören können, mit einem bedrohlichen, diabolischen Grinsen im clownesk geschminkten Gesicht. Sie posierten, hatten kleine Interaktionen miteinander, ignorierten die Gäste und waren so irgendwie ein lebendiger Teil der Deko. Auf jeden Fall war das Kunst. Und auf jeden Fall war es verstörend. Und ich habe es geliebt und war seit diesem Abend vor jedem Lulu Besuch gespannt und voller Vorfreude auf die Looks der Clubkids.
Während ich die Doku schaute und mehr über Cybersissys künstlerischen Prozess und ihre Psychosen lernte, schlich sich mir aufgrund meiner Arbeit an diesem Artikel eine Frage in den Kopf: Auch wenn nichts an dieser Form von Selbstdarstellung mit Fetisch oder Sexualität zu tun hat; würde es die gleichen Reaktionen bei den besorgten Eltern erzeugen, wie ein Pup oder ein erwachsener Mann in Windel und mit Babyhaube? Ich stelle mir vor, wie jemand wie Cybersissy – groß, dick, kahlgeschoren, mit clowneskem Make Up, umgeschnallten Silikonbrüsten auf haarigem Oberkörper – debil grinsend ein Foto mit einem kleinen Kind macht und das dann in den Internetforen herumgereicht wird. Die Reaktionen wären wohl sehr ähnlich wie die aktuellen Vorwürfe. Man muss das Kind schützen. Das ist doch krank. Verstörend. Traumatisierend. Wie soll ich das meinem Kind erklären? Ich frage mich, ob die Reaktionen aus unserer Community anders wären, oder ob man auch hier beifällig nicken würde? Ja, beim CSD geht es doch um Akzeptanz, da können wir nicht dulden, dass sich die Kinder erschrecken…
I couldn’t help but wonder: Auch wenn es nichts mit Sex zu tun hat, sind wir in unserer queeren Expression anstößig?
Ab wann sind wir im öffentlichen Raum so verstörend, dass man Kids vor unserem Anblick schützen muss? Ein Freund sagte mal einen sehr klugen Satz, der auch hier greift: „Als Hete bist du erstmal Mensch, als Homo automatisch Sex. Die dürfen Mensch sein, wir werden darauf reduziert, mit wem wir vögeln und was wir in der Öffentlichkeit tun, wird immer auch sexuell gewertet.“ Wie viel dessen, was an unserer Community weird und edgy und extrem ist, sind wir bereit zu opfern für die Respektabilität? Wie weit wollen wir uns selbst zurückstutzen oder zurückstutzen lassen, um nicht zu krass zu wirken, um nicht zu riskieren, dass die mühsam erkämpfte Akzeptanz der breiteren Masse uns wieder abgesprochen wird?
Und wie weit wird das gehen, wenn wir einmal anfangen?
Und ja, Kinderschutz ist irrsinnig wichtig. Aber warum muss es an diesem einen Tag im Jahr, in dem wir als queere Community auf die Straße gehen, um uns in all unseren Facetten zu feiern, plötzlich das wichtigste und drängendste Thema sein? Selbst queere Menschen griffen nach Katjas Post und denen der besorgten „Seelenschützer“ die Forderung, Nacktheit beim CSD hart zu bestrafen und die Zurschaustellung von Fetisch kategorisch zu verbieten immer wieder auf: Es müsse Grenzen geben. All das würde den CSD an sich, dass, wofür die Parade eigentlich stehe, ad absurdum führen. „Der CSD ist eine Party, wo wir unsere Freiheit feiern, mit allen, die mitfeiern wollen. All diese Kink Typen, oder die Leute, die radikale politische Forderungen dort hinschleppen und sich von der Gesellschaft abgrenzen, statt einzugliedern, das hat nichts mit dem CSD zu tun!“
Spätestens da wurde ich stutzig und ich will gerne die kleine queerhistorische Schleife drehen, um zu erklären, warum. Als politisch halbwegs versierte Maus mit 1978er Baujahr, ist mir bewusst, dass wir den CSD feiern, weil sich 1969 in der New Yorker Christopher Street ein Haufen queerer, angepisster Menschen gegen Polizeiwillkür und -gewalt aufgelehnt haben. Die Amerikaner:innen nennen das „Stonewall“ und das 1970 zum ersten Mal stattfindende Event dazu „Pride“. Wir haben das, wie so vieles, importiert und nennen es den Christopher Street Day. Beide Paraden feiern dasselbe: queere Selbstbestimmung, Auflehnung gegen Gewalt, sexuelle Befreiung und queere Lebensfreude
Obwohl die Versionen dessen, was in dieser Nacht im „Stonewall Inn“ passiert ist, variieren und mittlerweile Legendenstatus haben, ist eines klar: Diejenigen, die sich dort gegen die Polizei erhoben haben, waren die Marginalisierten und Ausgestoßenen. Sexworker, People of Colour, Trans*personen, Lederkerle, butche Lesben. Ich war nicht dabei. Ich kann also nur vermuten, wie viele angepasste Homos mit „straight passing“ damals dabei waren. Wenn man den Zeitzeug:innenberichten Glauben schenken will, waren sie – wenn überhaupt, in der Unterzahl. Will sagen: Die gesellschaftlichen Freiheiten bzw. die dort losgetretenen gesellschaftlichen Veränderungen, die wir beim CSD feiern, wurden von Menschen in Gang gebracht, die heute auf dem CSD, so wie ihn sich die Kritiker:innen wünschen, vielleicht nicht mal mehr willkommen wären.
Die Leder- und Kinkcommunity war von Anfang an ein wichtiger Teil der Bewegung. Sie hat über Jahrzehnte tief in die Tasche gegriffen, um Prides zu finanzieren. Sie hat während der AIDS-Krise die schlimmsten Verluste erleiden müssen und hat trotzdem immer den Erhalt der Community im Auge behalten. Menschen in Lederkluft oder mit anderen, klar als solche lesbaren Fetischen, haben für queere Sichtbarkeit gesorgt, als das noch harte Repressalien und Ausgrenzung bedeutet hat. Selbstverständlich gehören die auf jeden CSD. Wie mein Freund Sten Kuth mir dieser Tage noch einmal sagte: „Sexuelle Befreiung ist auch eine gewisse Provokation der normativen und konservativen Moral und gehörte immer zum CSD.“ Sten muss es wissen. Seine Mutter wohnte jahrelang im Village. Direkt neben dem Stonewall Inn. Und unter seinen sehr queeren Babysittern befand sich auch Marsha P. Johnson. Sylvia Rivera wird oft in einem Atemzug mit Marsha P. Johnson genannt, wenn es um die Stonewall Riots geht. Die tatsächliche Beteiligung an den eigentlichen Riots ist bei Sylvia schwammig. Doch zumindest am zweiten Abend war sie definitiv vor Ort. Von Marsha wissen wir, dass sie erst dazugestoßen ist, als schon alles längst im Gange war. Allerdings noch in der ersten Nacht (die Riots zogen sich über 6 Nächte). Ob je ein Stein geworfen wurde, wird bis heute debattiert. Was verbrieft ist, ist, dass Stormé Delarverie den ersten Faustschlag an einen Polizisten ausgeteilt hat. Und ja, wahrscheinlich war sie es: Eine schwarze, butche, gender-non-conforming Lesbe, die die Riots damit losgetreten hat. Sylvia und Marsha waren zwei Schlüsselfiguren der Bewegung, lange vor den Riots und lange danach.
Sie gründeten STAR (Street Transvestites Action Revolutionary). Ein Haus für andere Transfrauen und queere Kids, um vor allem die jungen Mädels von den Straßen und der Prostitution fernzuhalten. Dafür gingen die beiden selber anschaffen, sammelten Geld und stahlen, wenn es nötig war. Marsha wurde, so erzählt man sich, 1992 ermordet und in den Hudson River geschmissen. Der Mörder wurde nie gefasst. Die Polizei hat das Ganze als „Selbstmord“ zu den Akten gelegt. Sylvia wurde obdachlos und lebte über Jahre in einer Art Obdachlosenkolonie bei den Piers, unweit vom Stonewall Inn. Bis sie von anderen Transschwestern von der Straße geholt wurde und sie ihr, bis zu ihrem Tode 2002, ein Dach über dem Kopf boten. Ein Moment in der Geschichte von Marsha und Sylvia ist für mich besonders wichtig. Bei all dem Unverständnis darüber, was der CSD wirklich feiert und woher er kommt, scheint er mir wichtiger, denn je: 1973, bei den Feierlichkeiten im Gedenken an die Stonewall Riots, musste sich Sylvia einen Weg auf die Bühne erkämpfen. Man hatte sie einfach stundenlang am Bühnenrand stehen lassen und sie ignoriert, während auf dem Podest weiße Gays und TERFs wie Jean O’Leary über die fabelhaften neuen Freiheiten sprachen. Darüber, wie weit ihre Bewegung doch gekommen sei. O‘ Leary nannte Sylvia von der Bühne herunter einen „Mann in Frauenkleidern“. Sie behauptete, die Drag und Trans*Femme Menschen würden die Frauenbewegung behindern und sich über Weiblichkeit lustig machen. Nun war Sylvia niemand, die sich abweisen ließ. Als sie es endlich auf die Bühne schaffte, wurde sie von großen Teilen des Publikums ausgebuht. Diese verdrogt aussehende Alte solle doch bitte jetzt nicht den Ablauf der Show stören, wo es doch gerade so nett war. „Y’all better quiet down!!“, schrie Sylvia den Buhrufenden entgegen und machte ihrem Ärger laut Luft. Sie beschrieb, wie grauenhaft die Situation für ihre Transschwestern war, die auf der Straße lebten, anschaffen mussten und deswegen im Knast landeten, wo sie verprügelt und vergewaltigt wurden. Auch das sei ihr viele Male selbst wiederfahren. Und doch würden ihre „Gay Brothers“ von ihr erwarten, sich zu beugen, anstatt sich auf ihre Seite zu stellen. „Ich habe im Kampf für unsere Rechte meinen Job verloren. Ich habe meine Wohnung verloren, und so behandelt ihr mich? Was zur Hölle ist bei euch kaputt? (…) Wir versuchen, für uns ALLE zu kämpfen und nicht für die Zugehörigkeit in einem weißen Mittelklasse-Club. (…)“. Wer das bewegende Video zu dieser Rede sehen möchte, kann einfach „Y’all better quiet down“ bei YouTube eingeben. Man kann Sylvia ihre Verzweiflung ansehen. Ihren Zorn darüber, dass die Bewegung sie jetzt loswerden wollte. Die Bewegung, für deren Entstehung und Fortbestehen sie mehr geopfert hatte, als irgendjemand sonst unter den Anwesenden. Und doch passte sie nicht mehr in das Bild, was sich die Bewegung als Image für die Zukunft und das Assimilieren in den amerikanischen Mittelstand vorstellte. Sie fühlte sich von denen, für die sie immer mitgekämpft hatte, verraten und ausgestoßen. Die Türen, die sie mit aufgestoßen hatte, wurden ihr und ihresgleichen jetzt vor der Nase zugeschlagen. Sylvia ging nach Hause und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Marsha fand und rettete sie. „Yeah. I’m among the last of a dying breed.Well, once the e.R.A. and gay civil rights bills have been passed, me and mine will be swept under the carpets. Like the blacks done to amos, andy and aunt jemima.” Harvey Fierstein, “Torch Song Trilogy” Natürlich haben wir in Deutschland mit Magnus Hirschfeld und anderen eine queere Bewegungsgeschichte, die älter ist als Stonewall. Aber da wir über den CSD sprechen, sei mir der Fokus auf Stonewall gestattet. Der Grund, warum gerade diese Geschichte hier so wichtig ist, liegt auf der Hand: Wir dürfen als Community nicht vergessen, woher wir kommen. Damit meine ich nicht nur Stonewall. Sondern auch alles, was seitdem geschehen ist. Die, die jahrzehntelang unsere Bewegung vorangetrieben haben, dürfen wir jetzt nicht aussortieren, weil sie gewissen Leuten nicht geheuer sind. Deswegen ist es für mich so wichtig, regelmäßig unsere History herauszukramen und sie den Leuten einzuprügeln. We’re standing on the Shoulders of Giants. Das darf nie in Vergessenheit geraten! Ich komme aus einer Zeit, in der viel mehr Dinge politisch gesehen wurden als heute. Das war großartig, denn die Leute waren wachsamer, sperriger. Hätte da eine Katja Krasavice die gleichen Dinge gesagt, hätten nicht gleich zwei Tage später ein paar Rabattcode-Drag-Queens das von Katja verschickte PR-Köfferchen zur Bewerbung ihres neuen Getränks durch ihre Instagramstories geschoben. Das hätte einem das eigene Rückgrat verboten. Und ja, ich weiß auch, dass vieles von dem, wofür man damals vehement gekämpft hat, heute nicht mehr die gleiche Brisanz hat. Schließlich sind wir gesellschaftlich und auch gesetzlich weiter. Vieles wurde erreicht und erscheint heute selbstverständlich. Doch von wem wurden diese Fortschritte erkämpft und wie? Durchs Anpassen, Lächeln und sich nach hinten stellen? Oder durchs laut sein, unangenehm sein, sich que(e)rstellen? Wie viel Revolution solls denn noch sein auf unserem CSD? Und wie viel Community? In Anbetracht der stetig steigenden Anzahl an queerfeindlichen Übergriffen und Attentaten wie Oslo oder Colorado Springs; Monate nach dem CSD und dem eigentlichen Eklat, muss ich mir eine weitere Fragen stellen: Wie harmlos ist es, wenn wir ständig öffentlich mit Groomern und Pädophilen gleichgemacht werden? Hat nicht diese Art von Diskurs Mitschuld daran, dass sich junge Männer ein Gewehr schnappen und beschließen, uns abzuknallen? Klebt nicht Blut an den Händen derer, die ihre öffentliche Plattform nutzen, Schwule als Perverse, Transfrauen als männliche Triebtäter und vorlesende Drag Queens als gemeingefährliche Kindesverführer:innen zu framen? Und wie kann es sein, dass so viele von uns all das nicht richtig interessiert, die Musik dieser Leute weiter gehört wird, ihre Produkte gekauft werden und sogar bereitwillig für sie Werbung gemacht wird? Ich fordere nicht die viel verpönte Cancel Culture. Mir wäre eine ernst gemeinte Auseinandersetzung mit dem Thema schon recht. Eine öffentliche Entschuldigung und Richtigstellung vielleicht. Und ja: Etwas mehr Haltung von meiner Community, solchen Leuten nicht einfach immer wieder trotzdem Geld in den Rachen zu werfen oder für sie für ein bisschen Geld oder einen Platz im Scheinwerferlicht bereitwillig Werbung zu machen. Und wo bitte sind unsere Allies? Die Firmen, die so gerne mit uns werben, um Diversität vorzutäuschen? Die Bands, die uns für ihre Musikvideos für ein bisschen Hartgeld besetzen? Die Heten, die so gerne auf unsere Parties kommen, um ausgelassen feiern zu können, ohne begrapscht zu werden? Warum seid ihr so still? Ich habe 2022 im Rahmen der Pride Week zu einem Live Podcast geladen und im anschließenden Q&A Segment kam eine Diskussion auf darüber, wie viel Wert Online Aktivismus hat in Zeiten von realer Diskriminierung. Meine Meinung war und ist, dass Online Aktivismus sehr viel kann und wertvoll ist, aber eben den Gang auf die Straße nicht ersetzt, um laut und präsent die Dinge zu fordern und durchzudrücken, die erreicht werden müssen. Und das sehen wir auch jetzt: es ist super, dass wir alle durch Instagram und TikTok auf dem Laufenden sind, was weltweit geschieht und dass wir uns alle einer Online Community angehörig fühlen, in der wir nicht geothert werden. Trotzdem bringt all der Online Aktivismus der Welt nichts, wenn wir dabei in einer Bubble bleiben, die für den Rest der Welt nicht sichtbar ist und in der wir uns gegenseitig unsere Entrüstung und Verzweiflung entgegenschreien. Denn die Leute, die das hören müssen, die Leute, die wir stören und unter Druck setzen müssen, die sind nicht in unserer Bubble, die interessiert das nicht. Manche würde es vielleicht interessieren, aber wenn wir nicht auch in deren Sichtfeld protestieren, bleibt es ein Aufstand in der Echochamber. Und den besorgten Eltern und den vermeintlichen Feminist:innen sei abschließend ein Loriot Zitat mit auf den Weg gegeben: „Ich ess es ja, aber nicht unter falschem Namen!“.
Soll heißen: Ich bin bereit, mich diesen Diskussionen zu stellen, aber nicht unter falscher Flagge. Nicht, wenn so getan wird, als ginge es um irgendetwas Hehreres als blanke Intoleranz. Nicht, wenn die Sorge um das Kindeswohl als Platzhalter benutzt wird, um die eigenen Vorurteile zu verschleiern oder Feminismus, um simple Transphobie in ein passableres Mäntelchen zu hüllen. Ich habe keine Lust, bei diesen Schattenboxkämpfen mitzumachen. Und ich fordere meine Community dringend auf, wieder sperriger zu werden. Ungemütlicher. Engagierter. Wehrhafter.
„Not gay as in ‚happy’, but queer as in ‘fuck you!’.”.
In diesem Sinne,
Eure Barbie